Defreggerstraße

Stadtteil Pradl

Defreggerstrasse 12

Defreggerstraße 12

In der Defreggerstraße 12 im 1. Stock lebten Wolf Meier Turteltaub und seine Frau Amalie, geb. Wolfart zusammen mit ihren Kindern Fritz und Eva Alloggi sowie den vier Enkelkindern Aldo Alloggi, Erich Weinreb, Poldi und Gitta Scharf.

Im Haus wohnte auch Amalie´s Bruder Julius Schrager mit seiner Frau Sali, geb. Schneider und den Söhnen David und Paul.

Wolf Meier Turteltaub wurde in jener Nacht in der Wohnung brutal niedergeschlagen und an den Füßen über die Treppe gezerrt. Er wurde zusammen mit seinem Sohn Fritz, seinem Enkel Aldo Alloggi sowie seinem Schwager Julius Schrager für einige Tage im Hauptquartier der Gestapo in der Bienerstraße 8 in Schutzhaft genommen.

Das im Parterre des Gebäudes befindliche und von Wolf Meier Turteltaub geführte Gemischtwarenhandelsgeschäft „Waren Kredithaus Fortuna“ wurde nach dem „Anschluss“ zuerst unter kommissarische Verwaltung gestellt und dann liquidiert. Bereits im Jänner 1938 musste Amalie Turteltaub das Haus Defreggerstraße 12 und den dazugehörigen Garten verkaufen.

Im Dezember 1938 musste die Großfamilie nach Wien übersiedeln und versuchte von dort aus die Flucht zu organisieren. Fritz Turteltaub und Eva Alloggi konnten nach England bzw. Palästina auswandern. Aldo Alloggi gelang die Flucht nach Israel. Durch die Hilfe ihrer Großeltern gelang dem 10-jährigen Erich Weinreb und dem 8-jährigen Poldi Scharf im Mai 1939 die Flucht nach Palästina. Ihre Mutter Anna starb bereits 1934 an Tuberkulose. Wolf Meier und seine Frau Amalie wurden zusammen mit ihrer 10jährigen Enkelin Gitta Scharf 1942 in den Osten deportiert und im Vernichtungslager Riga ermordet. Der Vater von Gitta und Poldi, Salo Scharf zählte zu den Opfern in Auschwitz.

Abraham Gafni

Abrahm Gafni und Poldi Scharf in Palästina (g)

Der in Dornbin lebende Sohn Edmund Turteltaub und seine Frau Gertrud, geb. Popper wollten mit ihren Kindern nach Bolivien auswandern, wurden jedoch in Italien verhaftet. Ihre Söhne Hans und Walter wurden 1944 in Auschwitz vergast, während Edmund und Gertrud Zwangsarbeit leisten mussten und als Arbeitssklaven im Lager verstarben. Ella, eine Schwester von Edmund und deren Ehemann Ernst wurden im polnischen Lublin getötet.

Julius Schrager wurde 1942 mit seiner Frau Sali und Sohn David nach Polen deportiert und in Maly Trostinec bei Minks ermordet. Dem anderen Sohn Paul gelang im März 1939 mit einer Jugendgruppe die Flucht nach Palästina.

Ella Turteltaub, die Zwillingsschwester von Anna lebte mit ihrem Mann Ernst Reichmann und dem Sohn Leopold in Telfs. Bereits 1933 beschmierten illegale NSDAP Mitglieder den Gehsteig vor dem Geschäft und ließen Böller im Garten explodieren. Ella und Ernst Reichmann wurden im KZ Majdanek in Polen ermordet. Sohn Leopold starb im KZ Auschwitz-Birkenau.

Abraham Gafni / Erich Weinreb über die „Kristallnacht“: „Ich sage immer, die tapfersten Männer waren die von der SA und der SS. Die waren so tapfer, dass sie bewaffnet in ein Haus eindringen konnten, in dem alte Menschen und kleine Kinder waren, die sie geschlagen haben, ohne Angst, so tapfer waren sie.“ (1)

Brief von Abraham Gafni

Anlässlich der 60 Jahre Feier der Israelitischen Kultusgemeinde von Tirol im September 2005 schrieb Abraham Gafni / Erich Weinreb den nachfolgenden Brief:

„Shalom! Ich bin Abraham Gafni aus Israel. Ich werde versuchen euch kurz von meinem Leben als jüdisches Kind in Innsbruck vor und nach dem Anschluss zu erzählen. Ich bin in Innsbruck geboren, in der Defregger Straße 12. Das war das Haus meiner Großeltern. Meine Mutter starb als ich 5 1/2 Jahre alt war. So lebte ich bei den Großeltern mit meinem 4jährigen Bruder und einer 2jährigen Schwester. Im Kindergarten war ich das einzige jüdische Kind. Meine Kindergärtnerin war die Schwester Martha – eine Nonne. Ich erinnere mich sehr gut an sie, sie sagte zu mir: Mein liebes Kind du musst mit uns nicht mitbeten, aber wenn du willst darfst du. In der Schule war ich wieder der einzige jüdische Schüler. Alle meine Freunde waren Christen. Es war kein Unterschied zwischen uns, wir machten alles zusammen: Ausflüge, Fussball, im Winter Rodeln. Ich war vom Religionsunterricht befreit, musste aber zum Religionsunterricht zu unserem Rabbiner. Die Note die ich von ihm bekam stand im Zeugnis unter Religion. Genau so wie bei allen Freunden. Freitag Abend ging ich mit Großpapa in den Tempel (wir sagten nie Synagoge) – Sonntag früh traf ich mich mit meinen Freunden in der Kirche. Es war alles ganz normal. Feiertage hatte ich doppelt: Pessach – zu Hause zweimal den Sederabend und dann die Osterhasen und Ostereier bemalen, Chanuka – zu Hause den Leuchter und die Lieder und bei meinen Freunden der Weihnachtsbaum, da war immer ein Geschenk für mich. Es war eine schöne Zeit. Dann kam der Anschluss, über Nacht änderte sich mein Leben. Man warf uns eine Bombe ins Haus, die Schaufenster vom Geschäft meines Großvaters, das im selben Haus war, wurden mit weisser Farbe bestrichen, ein grosses J und ein Davidstern. Dann kam die S.A. anmarschiert, blieben vor dem Haus stehen und dann im Chor: Wer bei Juden kauft ist ein Volksverräter und noch so ähnliches. Aber für mich war das Ärgste die Schule und die Freunde. Meine 2 besten Freunde die mit mir im Haus wohnten waren die einzigen die mit mir sprachen, aber nur wenn wir alleine im Haus waren. Alle stolzierten jetzt mit der HJ-Uniform und spielten mit dem Dolch. Ich war jetzt gerade in der 4. Klasse. Unser Lehrer war verschwunden. Am ersten Tag kam ein neuer Lehrer, er las die Namen der Schüler, jeder stand auf. Als er zu meinem Namen kam, stand ich auf und er sagte: Komm her du Sau Jud und begann mich zu schlagen. Das ging so einige Tage, aber zu meinem Glück liess man uns nicht mehr zur Schule. Das waren schwere Tage. Wir gingen fast nicht ausser Haus. Und dann kam der 9. November 38, die Kristallnacht. Die ersten Juden in Innsbruck wurden ermordet und unser Tempel zerstört. Ich erinnere mich gut, ich erwachte durch einen Lärm in der Wohnung. Ich sah wie fremde Männer meinen Großvater schlugen, die ganze Wohnung zerstöberten und den Großvater und einen Onkel mitnahmen. Man nannte das !Schutzhaft! Das waren Tage, die ich nie vergesse. Wir waren drei kleine Kinder allein mit der Großmutter. Nach einiger Zeit kamen alle nach Hause und man begann zu packen. Wir müssen aus Innsbruck fort sagte man mir, wir fahren nach Wien. Eines Nachts gegen Ende November 1938 sassen wir im Zug nach Wien. Als der Zug aus dem Bahnhof ausfuhr sagte die Großmutter: Kinder schaut auf Innsbruck, ich glaub das sehn wir nimmer. Sie hatte Recht, nur mein Bruder und ich konnten überleben, seit Juni 39 lebe ich in Israel. Ich kam nach Palästina, so wie Nazis es uns wünschten mit ihrem Fluch: Jud nach Palästina. Ich sage es heute so ähnlich, aber als Segen: Jud nach Israel.“ (2)

Am 10. Mai 2011 wurde Abraham Gafni mit dem „Verdienstkreuz der Stadt Innsbruck“ ausgezeichnet. „Diese Auszeichnung ist ein Zeichen des Respekts und der Wertschätzung. Es soll eine Anerkennung dafür sein, dass Herr Gafni trotz der negativen Erfahrungen in der Zeit der Judenverfolgung das Bekenntnis zu Innsbruck lebt. Ich empfinde eine große innere Dankbarkeit, dass ich Ihnen das Verdienstkreuz heute überreichen darf. Ihre Verbundenheit zu Innsbruck ist nicht selbstverständlich.“ – so Bürgermeisterin Mag.a Christine Oppitz-Plörer bei der Überreichung an Abraham Gafni in Anwesenheit von der Ehefrau Zipora Gafni, Gemeinderat Hermann Weiskopf und der Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde Dr.in Esther Fritsch. (3)

Interview mit Abraham Gafni

Im Rahmen der Buchpräsentation „Von Innsbruck nach Israel. Der Lebensweg von Erich Weinreb / Abraham Gafni“ interviewte Michael Haupt von Freirad am 9. Mai 2014 Abraham Gafni und die AutorInnen Horst Schreiber und Irmgard Bibermann.

http://cba.fro.at/259390

Am 11. Februar 2022 ist Abraham Gafni in Kirjat Tiw’on, Israel 93-jährig gestorben.


update 15.02.2022

Hinweis:

Die Fotos der Familie Turteltaub stammen alle aus dem Buch „Von Innsbruck nach Israel. Der Lebensweg von Erich Weinreb / Abraham Gafni“ von Horst Schreiber & Irmgard Bibermann. Ich danke den beiden und insbesondere Abraham Gafni für die Verwendung der Fotos. © Das Copyright liegt bei Abraham Gafni.

Für die Verwendung des Briefes und des Fotos möchte ich Abraham Gafni und Hanne Mitterstieler herzlich danken.

Buch Abraham Gafni

„Von Innsbruck nach Israel. Der Lebensweg von Erich Weinreb / Abraham Gafni“ von Horst Schreiber und Imrgard Bibermann

„Die Lebensgeschichte Erich Weinrebs, später Abraham Gafni ist ein beeindruckendes zeithistorisches Dokument von Gewalt, Zerstörung, Neuanfang und Versöhnung. Dutzende private Fotos geben Einblick in das Leben einer jüdischen Großfamilie und ihr Schicksal.“
Abraham Gafni, geboren 1928 als Erich Weinreb, erzählt vom Aufwachsen im Innsbruck der 1930er Jahre, von der Flucht in die Freiheit, seinem Einsatz für den Aufbau des Staates Israel, vom Weiterleben im Schatten des Holocaust und von seinem heutigen Verhältnis zu Innsbruck und Tirol. Ein historischer Essay über die Entwicklung jüdischen Lebens in Tirol seit dem 19. Jahrhundert sowie ein leitende Informationstexte zu Abraham Gafnis Erzählungen verdeutlichen die Wechselwirkungen zwischen Individuum und übergeordneten Strukturen. Zahlreiche Fotografien, u. a. aus dem Innsbrucker Stadtarchiv und dem Privatarchiv der Familie Gafni, lassen die Erzählungen in Wort und Bild lebendig werden. Eine Veröffentlichung des Innsbruck Stadtarchivs, Bd. 54, Studien zur Geschichte und Politik, Bd. 16, StudienVerlag

Literatur:

Martin Achrainer / Niko Hofinger < Die Turteltaubs: Eine Großfamilie zwischen jüdischer Tradition und österreichischem Alltag > in: Thomas Albrich (Hg.), „Wir lebten wie sie…“. Jüdische Lebensgeschichten aus Tirol und Vorarlberg, Haymon-Verlag Innsbruck 1999, S 147-164

Christoph W. Bauer < "Ein altes Schnapsservice in Kirjat Tiw´on - Bei Abraham Gafni zu Gast" > in: Die zweite Fremde – Zehn jüdische Lebensbilder, Haymon Verlag Innsbruck-Wien 2013, S 101-118

Horst Schreiber < Die Turteltaubs: Das Schicksal einer jüdischen Großfamilie >i n: Nationalsozialismus und Faschismus in Tirol und Südtirol – Opfer . Täter . Gegner, Tiroler Studien zu Geschichte und Politik, Michael-Gaismair-Gesellschaft, StudienVerlag 2008, S 286-288

Horst Schreiber < "Wolf Meier Turteltaub, Kaufmann, Defreggerstraße 12" > in: Jüdische Geschäfte in Innsbruck – Eine Spurensuche, StudienVerlag 2001, S 104-105

Horst Schreiber & Irmgard Bibermann < "Von Innsbruck nach Israel - Der Lebensweg von Erich Weinreb / Abraham Gafni". Mit einem historischen Essay über jüdisches Leben in Tirol > StudienVerlag 2014

Gad Hugo Sella < Die Juden Tirols - Ihr Leben und Schicksal > Israel 1979

Maria Luise Stainer <  "Ich hab´mich gefühlt wie bei der Vertreibung aus dem Paradies" - Berichte Vertriebener aus Tirol > in: Thomas Albrich (Hg.), „Wir lebten wie sie…“. Jüdische Lebensgeschichten aus Tirol und Vorarlberg, Haymon-Verlag Innsbruck 1999, S 355-372

Bildnachweis:

(a, b, c, d, e, f) Wolf Meier Turteltaub, Amalie Turteltaub, Eva Alloggi, Erich Weinreb, Poldi Scharf, Gitta Scharf – © Abraham Gafni

(g) Abraham Gafni via Hanne Mitterstieler

Quellen:

(1) „Von Innsbruck nach Israel – Der Lebensweg von Erich Weinreb / Abraham Gafni“. Mit einem historischen Essay über jüdisches Leben in Tirol – StudienVerlag 2014, S 125

(2) Israelitische Kultusgemeinde Innsbruck – Brief Abraham Gafni / Erich Weinreb

 (3) Presseaussendung Verdienstkreuz Abraham Gafni.pdf – www.innsbruck.at – visit 14.05.2011

Familie Turteltaub – http://www.tibs.at/projekte/turteltaub/

Familie Turteltaub – Eine Virtuelle Ausstellung – http://zis.uibk.ac.at/quellen/turteltaub/welcome.html

http://www.innsbruck.at/io30/browse/Webseiten/Content/verdienstkreuz_de.xdoc – visit 14.05.2011

Freirad-Interview mit Abraham Gafni, Horst Schreiber und Irmgard Bibermann – http://cba.fro.at/259390 – visit 27.10.2018

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